Bremsen in Elektrofahrzeugen stecken voller Technik

Elektrofahrzeuge stellen besondere Anforderungen an die Bremsanlage. Die Fahrzeuge sind aufgrund der Batterien schwerer, die Drehmomente sind höher, die Beschleunigung stärker. Dies verursacht beim Bremsvorgang einen erhöhten Verschleiß der Bremsscheiben und Bremsbeläge – müsste man meinen. Einerseits ja, doch die mechanischen Bremsen werden im Vergleich zu Autos mit Verbrennungsmotor systembedingt deutlich weniger betätigt. Stichwort: regeneratives Bremsen. Die Verzögerung des Elektrofahrzeugs wird je nach Betriebssituation über die Generatorfunktion der E-Maschine(n) durch Energie-Rückgewinnung (Rekuperation) bewerkstelligt oder zumindest anteilig unterstützt. Experten sprechen bei Elektroautos von rund einem Fünftel weniger Bremseingriffen. Die Bremsbeläge sind also keinem erhöhten Verschleiß ausgesetzt. Im Gegenteil: Da die beiden Reibpartner, die Bremsbeläge und die Bremsscheibe, nicht permanent beansprucht werden, altern Beläge tendenziell rascher und können verglasen. Bei Bremsscheiben kann es zur Rostbildung kommen. Die Folge sind materialbedingte Vibrationen und Geräuschemissionen wie Quietschen oder Schleifen.

Ein interessanter Punkt, rücken derartige Geräusche doch speziell bei E-Autos aufgrund der leisen E-Maschine in den Vordergrund und beeinträchtigen so den akustischen Fahrkomfort. Zudem kann die Bremsperformance nachlassen, wenn man scharf in die „Eisen“ steigen muss. „Die geringere Nutzung der herkömmlichen Bremsen kann bei E-Autos zu Problemen führen“, so Jannis Dörhöfer, Referent für New Mobility beim deutschen TÜV-Verband.  „Werden die Bremsbeläge nicht ausreichend und regelmäßig erhitzt, können die Materialeigenschaften leiden.“ Die Folge seien eine Absenkung des Reibwertes und somit eine schlechtere Bremswirkung. „Eine regelmäßige Kontrolle und Wartung der Bremsanlage ist also bei Elektrofahrzeugen zu empfehlen.“

Aus diesen Gründen hat HELLA Pagid (ein Gemeinschaftsunternehmen von HELLA und TMD Friction) spezielle Bremsbeläge und Bremsscheiben für Elektrofahrzeuge im Programm. Sie sind eigens für diese besonderen Rahmenbedingungen ausgelegt und gewährleisten die Bremsleistung und den Bremskomfort trotz „Ruhepausen“. Die Marktabdeckung beläuft sich im Aftermarket aktuell bereits auf über 90 Prozent an Bremsbelägen für Elektro- und Hybridfahrzeuge sowie 85 Prozent an Bremsscheiben.

Sicheres Bremsen mit Elektrofahrzeugen erfordert komplexes Zusammenspiel

Elektrofahrzeuge verzögern über die klassische Bremsanlage und die Rekuperier-Funktion. Das Fahrzeug bremst in vielen Fahrsituationen bei Betätigung der Bremse und im Schubbetrieb ganz ohne die mechanische Bremse ab. Was jedoch einfach klingt, setzt ein hochkomplexes Zusammenspiel der elektrischen und hydraulischen Komponenten voraus. Sanfte Verzögerung bei der Bergabfahrt, vor einer Kreuzung oder scharfe Notbremsung in einer Gefahrensituation? Die Elektromechanik muss den Fahrerwunsch sofort erkennen.

Elektroautos verzögern nicht nur über die klassische Bremsanlage. Die Verzögerung wird durch das Rekuperieren (regeneratives Bremsen) unterstützt, teils sogar gänzlich ersetzt.

Elektroautos verzögern nicht nur über die klassische Bremsanlage. Die Verzögerung wird durch das Rekuperieren (regeneratives Bremsen) unterstützt, teils sogar gänzlich ersetzt.

Eine zentrale Rolle spielt dabei ein elektromechanischer Bremskraftverstärker mit Druckspeicher, eine elektrische Vakuumpumpe sowie der Bremspedalwertgeber. Je nach Anforderung, sprich je nach Bremspedalstellung und Bremspedaldruck, berechnet das Bremsensteuergerät in Millisekunden die notwendige Bremskraft. Ab einer gewissen Bremsverzögerungskraft aktiviert der Bremskraftverstärker (je nach Fahrzeug und Einstellungen) die mechanischen Bremsen. Hinzu kommt die intelligente Steuerung von ABS und ESP sowie die Integration von Fahrerassistenzsysteme wie beispielsweise den Notbremsassistenten. Der Vorteil:  Das duale Bremssystem (Brake-Blending = gemischte Bremssteuerung) lässt sich extrem fein ansteuern, der Bremseingriff geschieht immer optimal dosiert. Ein perfektes Zusammenspiel also!

 

HELLA ist Spezialist für Vakuumpumpen und für elektronische Bremspedale sowie die entsprechende Sensorik. Das Pedalgefühl kann durch Hydraulikventile oder durch Dämpfungseinheiten (Simulatoren) sogar dynamisch reguliert werden.

Elektrofahrzeuge: Spezielle Bremsbeläge, spezielle Bremsscheiben

Grundsätzlich gibt es auf den ersten Blick keine Unterschiede zwischen Bremsbelägen und Bremsscheiben für Verbrenner und E-Autos. Das Layout ähnelt sich. Doch die Lastenhefte, was E-Autos angeht, werden von Seiten der Fahrzeughersteller immer weiter angepasst. Bei Bremsbelägen stehen leise und vibrationsarme Beläge (Geräusch, Vibration, Rauhigkeit, NVH = Noise, Vibration, Harshness) im Vordergrund. Mitunter sind die Bremsbeläge auch „schlanker“ ausgeführt: Sie verfügen über eine kleinere und dünnere Reibfläche, was der geringeren Einsatzfrequenz geschuldet ist. Zudem lässt sich Material einsparen, was der Umwelt zugutekommt.

 

Bei der Produktentwicklung stehen bei HELLA Pagid der Umweltschutz und die Umweltverträglichkeit neben der optimalen Performance im Vordergrund. Die Bremsbeläge für Elektro- und Hybridfahrzeuge sind beispielsweise allesamt kupferfrei. Die kupferfreie Rezeptur der Beläge ist nicht nur umweltschonend, sondern zusätzlich exakt auf die jeweiligen Fahrzeugtypen, Bremsanlagen, Motorleistungen, Fahrlasten und Bremscharakteristika ausgelegt. Sie verfügen über eine höhere Kompressibilität sowie tendenziell höhere Reibwerte. Dabei müssen die Bremsbeläge aufgrund der niedrigeren Nutzungsfrequenz auch im kalten Zustand optimal funktionieren. Die Eigenschaften testet HELLA Pagid im konzerneigenen Forschungs- und Entwicklungszentrum auf Reibwert, Pedaldruck und Heiß-Verschleiß. Zusätzlich übertreffen die Bremsbeläge die geltende ECE-R90-Regelung. 

 

Speziell für sehr leistungsstarke Elektro- und Hybridfahrzeuge, bietet HELLA Pagid belastungsstarke hochgekohlte Bremsscheiben. Der erhöhte Kohlenstoffanteil ermöglicht eine schnellere Wärmeableitung auch in Extremsituationen und damit eine optimale Bremsleistung. Die Bremsscheiben sorgen zusätzlich für ein geringes Fading-Verhalten, für reduzierte Bremsgeräusche, für weniger Scheibenschläge und einen erhöhten Bremskomfort. Um Korrosion vorzubeugen, sind die Bremsscheiben mit einem Lack auf Wasserbasis beschichtet. Im Übrigen können sie in der Werkstatt sofort eingebaut werden, es muss kein Schutz-Öl entfernt werden.

Bremsflüssigkeit mit hohem Trocken- und Nasssiedepunkt für Elektrofahrzeuge

Obwohl elektromechanische Aktuatoren längst bei der Elektrischen Parkbremse (EPB) zum Einsatz kommen und Fahrzeuge mit reinen elektrisch betätigten Bremsen bereits getestet werden, wird die Reibbremsanlage bei Elektrofahrzeugen nach wie vor hydraulisch betätigt. HELLA Pagid entwickelt mit der DOT 5.1 EH deshalb eine spezielle Bremsflüssigkeit auf Glykolbasis für Elektrofahrzeuge. Sie soll sich durch hohe Trocken- und Nasssiedepunkte von mind. 260°C beziehungsweise 180°C, einer geringen Leitfähigkeit, einem hohen Korrosionsschutz sowie einer geringen Viskosität von maximal 750 cSt bei -40°C auszeichnen. Damit soll die Bremsflüssigkeit beinahe alle geltenden Spezifikationen der bereits gängigen Bremsflüssigkeiten von DOT 3 bis hin zu DOT 5.1 übertreffen und soll damit optimal für die hohen Ansprüche der Bordelektronik der heutigen Elektrofahrzeugen gerüstet sein. Die Beschleunigungen ohne Drehmomentverlust sorgen dafür, dass Elektroautos hohe Geschwindigkeiten innerhalb kürzester Zeit erreichen. Aus diesen Geschwindigkeiten schnell wieder den Stillstand zu erreichen, erfordert eine entsprechend hohe Bremsperformance, die durch den überdurchschnittlich hohen Trocken- und Nasssiedepunkt der neuen Bremsflüssigkeit jederzeit sichergestellt ist.

Bremsanlage an der Hinterachse eines Tesla. Eine Kombination aus hydraulischer Bremse mit einer elektrischen Parkbremse (EPB).

Bremsanlage an der Hinterachse eines Tesla. Eine Kombination aus hydraulischer Bremse mit einer elektrischen Parkbremse (EPB).

Euro-7 und Bremsstaub-Emissionen bei Elektroautos: Neues Testverfahren

Mit der Einführung der neuen Euro-7 Abgasverordnung ab 2025 müssen Hersteller von Pkw-Bremsbelägen auch die Feinstaubemissionen erfassen und entsprechende Werte einhalten. Diese Verordnung soll sowohl für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor als auch für Elektro- und Hybridfahrzeuge gelten. Der zentrale Aspekt ist dabei das Zusammenspiel der Reibpartner „Belag“ und „Scheibe“. Es kommt stark auf die Materialzusammensetzung und die dynamische Interaktion über den Lebenszyklus der Bremskomponenten an. Um diesen Feinstaub zu reduzieren, setzen HELLA Pagid und TMD Friction auf umweltverträgliche Belag-Mischungen.

 

Die Messung der Emissionen selbst ist kein einfaches Unterfangen, zumal die Messwerte reproduzierbar und vergleichbar sein müssen. Um sicherzustellen, dass sich die Messergebnisse auf den realen Fahrbetrieb übertragen lassen, wurde deshalb ein einheitliches WLTP-Testverfahren (Worldwide Harmonized Light Vehicles Test Procedure) entwickelt. Dieser Zyklus wurde mithilfe realer Fahrzeugdaten definiert und bildet über einen längeren Zeitraum verschiedene Betriebspunkte der Bremse ab. Dies gewährleistet eine reproduzierbare Erfassung des Bremsenabriebs. Mit diesem WLTP-Bremszyklus sollen zukünftig die Bremsemissionen auf Prüfständen einheitlich gemessen werden. Darüber hinaus ist es entscheidend, auf dem Prüfstand das jeweilige Fahrzeugmodell exakt abzubilden. So beeinflussen beispielsweise die Kombination aus Bremsbelag und Bremsscheibe, aber auch das Fahrzeuggewicht und die Gewichtsverteilung das Verschleißverhalten.

Fazit: Bremsen in Elektrofahrzeugen – eine saubere Sache!

Abschließend lässt sich sagen, dass Elektrofahrzeugen per se deutlich weniger Emissionen erzeugen. Damit sind nicht nur die gänzlich wegfallenden, motorenseitigen Abgase gemeint, sondern auch die geringere Geräuschentwicklung und die systembedingt deutlich niedrigeren Bremsstaub-Emissionen aufgrund der anteiligen Bremsenergie-Rückgewinnung (Rekuperation). Leise Beschleunigen, leise Bremsen – eine saubere Sache!